Dodgson
Dodgson sah das Leittier auf sich zukommen. Für Tiere dieser Größe waren die Tyrannosaurier vorsichtig: Nur eins der beiden näherte sich ihnen, und auch wenn es alle paar Schritte stehenblieb, um wütend zu brüllen, wirkte es merkwürdig zögerlich, wie verblüfft, daß die Männer einfach blieben, wo sie waren. Vielleicht konnte es sie aber auch nicht sehen. Vielleicht waren er und Baselton für das Tier ja tatsächlich unsichtbar geworden.
Der zweite Tyrannosaurier blieb zurück, hielt sich eher auf der anderen Seite des Nests. Der Kopf zuckte erregt auf und ab.
Erregung ja, aber kein Angriff.
Natürlich war das Gebrüll des näher kommenden Dinosauriers furchterregend. Dodgson wagte es nicht, zu Baselton hinüberzusehen, der nur ein paar Meter entfernt stand. Wahrscheinlich machte Baselton sich gerade in die Hose. Nur gut, daß er nicht davonrennt, dachte Dodgson. Würde er rennen, wäre er ein toter Mann. Solange er bewegungslos stehenblieb, war alles in Ordnung.
Dodgson stand stocksteif da und hielt den eloxierten Kasten in der linken Hand in Hüfthöhe, knapp vor seiner Gürtelschnalle. Mit der rechten Hand zog er ganz, ganz langsam das Verbindungskabel hoch. Gleich würde er den Stecker in der Hand spüren und ihn wieder in den Kasten stecken.
Dabei wandte er keine Sekunde den Blick von dem näher kommenden Tyrannosaurier ab. Er spürte, wie die Erde unter seinen Füßen bebte, hörte die Schreie des Babys, auf das King getreten war. Diese Schreie schienen den Erwachsenen Kummer zu bereiten, sie zu erregen.
Egal. Nur noch ein paar Sekunden, und das Kabel steckte wieder im Kasten. Und dann …
Der Tyrannosaurier war jetzt sehr nah. Dodgson roch den fauligen Gestank des Fleischfressers. Das Tier brüllte, und er spürte heißen Atem. Es stand jetzt direkt vor Baselton. Dodgson bewegte millimeterweise den Kopf, um hinüberzusehen.
Baselton stand stocksteif da. Der Tyrannosaurier kam noch näher und senkte den großen Kopf. Er schnaubte Baselton an. Dann hob er, wie verwundert, den Kopf wieder.
Er kann ihn wirklich nicht sehen, dachte Dodgson.
Der Tyrannosaurier bellte, es klang wütend. Irgendwie schaffte es Baselton, sich nicht zu rühren. Wieder senkte der Tyrannosaurier den großen Kopf. Baselton sah starr geradeaus. Mit riesigen, weit geöffneten Nüstern beschnupperte ihn der Saurier, ein langes, schnüffelndes Einatmen, in dessen Luftzug Baseltons Hosenbeine flatterten.
Nun stupste der Tyrannosaurier Baselton vorsichtig mit der Schnauze an. Und in diesem Augenblick erkannte Dodgson, daß das Tier ihn doch sehen konnte. Es schwang den Kopf zur Seite, stieß Baselton in die Flanke und warf ihn mühelos zu Boden. Baselton schrie, als der große Fuß des Tyrannosauriers sich über ihn senkte und ihn am Boden festnagelte. Baselton hob die Arme und schrie »du Scheißkerl«, als das weit aufgerissene Maul auf ihn herabstieß und sich um ihn schloß. Die Bewegung war beinahe sanft, doch im nächsten Augenblick schnellte der Kopf in die Höhe, riß an dem Körper, und Dodgson hörte einen Schrei und sah etwas Kleines, Schlaffes aus dem Maul hängen. Es war Baseltons Arm. Die Hand baumelte hin und her, das Metallband seiner Armbanduhr glitzerte unter dem riesigen Auge des Tyrannosauriers.
Baselton schrie, ein langgezogener, undifferenzierter Ton, und als Dodgson das hörte, brach ihm kalter Schweiß aus. Benommen drehte er sich um und rannte, zurück zum Auto, zurück in die Sicherheit, zurück zu irgend etwas.
Er rannte.
Kelly und Arby wandten sich gleichzeitig vom Monitor ab. Kelly wurde schlecht. Sie konnte nicht mehr hinsehen. Aber aus dem Funkgerät hörten sie noch die blechernen Schreie des Mannes, der auf dem Rücken lag, während der Tyrannosaurier ihn zerriß.
»Schalt aus«, sagte Kelly.
Einen Augenblick später hörten die Schreie auf.
Kelly seufzte und sackte in sich zusammen. »Danke«, sagte sie.
»Ich hab nichts getan«, sagte Arby.
Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm und sah gleich wieder weg. Der Tyrannosaurier riß an etwas Rotem. Sie erschauderte.
Es war still im Caravan. Kelly hörte das Klicken elektronischer Zählwerke, das Rattern der Wasserpumpen unter dem Boden. Von draußen kam das leise Rascheln des Winds im hohen Gras. Kelly fühlte sich plötzlich sehr allein, sehr isoliert auf dieser Insel.
»Arby?« fragte sie. »Was sollen wir jetzt tun?«
Arby antwortete ihr nicht.
Er stürzte ins Bad.
»Ich hab’s gewußt«, sagte Malcolm und starrte den Monitor am Armaturenbrett an. »Ich habe gewußt, daß das passieren wird. Sie haben versucht, die Eier zu stehlen. Und jetzt, schaut – die Tyrannosaurier verlassen das Nest! Beide!« Er drückte die Sprechtaste. »Arby. Kelly. Hört ihr mich?«
»Wir können nicht reden«, sagte Kelly.
Der Explorer fuhr die Hügelflanke hinunter, auf die Stelle des Tyrannosauriernests zu. Thorne hielt das Lenkrad fest umklammert. »Was für eine verdammte Scheiße.«
»Kelly? Hörst du mir zu? Wir können nicht sehen, was dort unten passiert. Die Tyrannosaurier haben das Nest verlassen! Kelly? Was passiert da?«
Dodgson rannte zum Jeep. Dabei löste sich der Batteriepack von seinem Gürtel, doch das war ihm egal. Vor sich im Jeep sah er King sitzen, er war blaß und angespannt.
Dodgson setzte sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. Die Tyrannosaurier brüllten.
»Wo ist Baselton?« fragte King.
»Hat’s nicht geschafft.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, daß er es verdammt noch mal nicht geschafft hat!« schrie Dodgson und legte den Gang ein. Der Jeep holperte den Hügel hoch. Hinter sich hörten sie das Brüllen der Tyrannosaurier.
King hatte das Ei in der Hand. Er drehte sich um und sah den Pfad hinunter. »Vielleicht sollten wir das da loswerden«, sagte er.
»Wagen Sie es ja nicht!« sagte Dodgson.
King kurbelte das Fenster herunter. »Vielleicht will er einfach das Ei zurück.«
»Nein«, rief Dodgson. »Nein!« Er griff mit der rechten Hand auf die Beifahrerseite, versuchte King von seinem Vorhaben abzubringen. Der Pfad war schmal und tief gefurcht. Der Jeep holperte vorwärts. Plötzlich brach direkt vor ihnen einer der Tyrannosaurier zwischen den Bäumen hervor. Das Tier stand fauchend da und versperrte den Weg.
»O Gott«, sagte Dodgson und stieg auf die Bremse. Das Auto schlitterte bedrohlich durch den Schlamm und kam dann zum Stehen.
Der Tyrannosaurier kam brüllend auf sie zu.
»Umkehren!« schrie King. »Umkehren!«
Aber Dodgson kehrte nicht um. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr so den Pfad wieder zurück. Er fuhr schnell, und der Pfad war schmal.
»Sind Sie verrückt?« rief King. »Sie werden uns umbringen!«
Dodgson holte aus und schlug King mit der Hand ins Gesicht. »Maul halten!« rief er. Er mußte seine ganze Aufmerksamkeit zusammennehmen, um das Auto sicher den gewundenen Pfad hinunterzusteuern. Obwohl er so schnell fuhr, wie er konnte, war er sich doch sicher, daß der Tyrannosaurier sie einholen würde. Es würde nicht funktionieren. Sie saßen in einem verdammten Jeep mit einem verdammten Stoffverdeck, und sie würden umkommen, und –
»Nein!« rief King.
Hinter sich sah Dodgson jetzt den zweiten Tyrannosaurier, der auf dem Pfad auf sie zurannte. Jetzt kamen die Tiere von beiden Seiten. Dodgson und King saßen in der Falle.
In panischer Angst riß er das Lenkrad herum, der Jeep sprang vom Pfad und krachte rückwärts durch dichtes Unterholz. Sie spürten einen Aufprall. Plötzlich kippte das Heck weg, und Dodgson merkte, daß sie mit den Hinterrädern über einem Abgrund hingen. Er gab verzweifelt Gas, aber die Räder drehten sich in der Luft. Es war sinnlos. Und das Auto kippte weiter, sank langsam immer tiefer durch Laubwerk, das so dicht war, daß er nichts mehr sehen konnte. Aber sie hingen über dem Rand. King neben ihm schluchzte. Das Brüllen der Tyrannosaurier war jetzt schon sehr nahe.
Dodgson stieß die Tür auf und sprang ins Leere. Er rauschte durch Blattwerk, fiel, knallte schließlich gegen einen Baumstamm und rollte einen steilen Abhang hinunter. Irgendwann spürte er einen heftigen Schmerz an der Stirn, und einen kurzen Augenblick lang sah er Sterne. Dann hüllte ihn Schwärze ein, und er verlor das Bewußtsein.